Kick-Off der Béton Bleu Essay-Reihe:
Die Integration Europas wird (auch) im Kultursektor entschieden
Die Covid-Pandemie stürzt die Kultur- und Kreativszene in Europa in eine existenzielle Krise. Eine zukunftsgerichtete europäische Integrationspolitik sollte daher strategisch reagieren – und in ihre Kultur Governance investieren.
Ein Essay von Ana-Marija Cvitic
Image via Théo Vardin, Oil Painting
Die politische Integration der Europäischen Union ist ein kultureller Prozess, der im alltäglichen Handeln der Akteur*innen geschieht – so lautet das bekannte kulturanthropologische Narrativ. Diese „Europäisierung des Alltags“ wird von der Kultur- und Kreativszene in Europa kollektiv intellektuell verarbeitet – denn schließlich bedeutet politische Integration, jederzeit ethische und ästhetische Grundbegriffe von Geschmack, Normen, Geschichtsbewusstsein zu verhandeln.
Nun wurde lange nicht mehr in Europa mit solch einer Wucht darüber debattiert, welche Rolle Kunst und Kultur in der Gesellschaft zukommen, wie in der Covid19-Pandemie. Ist Kultur „systemrelevant“ und lässt man ihre Institutionen folgerichtig auch im Lockdown zugänglich? Oder verortet sie der Staat eher bei der Unterhaltungsindustrie und macht sie damit in Krisenzeiten entbehrlich?
Die 27 europäischen Mitgliedstaaten finden darauf individuelle Antworten; die Europäische Union als Gemeinschaft noch nicht. Staaten wie Bulgarien, die Niederlande, Italien, Spanien oder Dänemark differenzierten während der zweiten Covid19-Welle die Maßnahmen, die den Kultursektor betrafen. Vielerorts blieb ein Museumsbesuch auch dort noch möglich, wo Gastronomie und Sportanlagen zu schließen hatten.
Kulturpolitik nach dem Subsidiaritätsprinzip
Zwar obliegt die uneingeschränkte Kompetenz für Kulturpolitik nach dem Subsidiaritätsprinzip den Mitgliedstaaten. Aber weil der Europäischen Kommission nur ergänzende, unterstützende sowie koordinierende Kompetenzen zukommen, werden alle Hoffnungen auf ihre finanzpolitischen Instrumente gesetzt. Dabei ist vieles denkbar: Von der Erweiterung des Programms Creative Europe bis zur Ausverhandlung eines „Cultural Deal for Europe“.
Kultur- und Kreativsektor ist ein essenzieller Wirtschaftszweig in der EU.
(c) Nicolas de stael
Der Kultursektor als integraler Bestandteil der europäischen Wirtschaft
Der Kultur- und Kreativsektor ist ein essenzieller Wirtschaftszweig in der EU. Nach Angaben von Eurostat beschäftigte die europäische Branche im Jahr 2019 mehr als 7,4 Millionen Menschen in 27 Mitgliedstaaten, das macht mehr als 3,7 Prozent aller Arbeitsplätze aus. Im Jahr 2017 erwirtschaftete der Kultur- und Kreativsektor Sektor mehr als 145 Milliarden Euro Umsatz.
Zu Recht hat sich das Narrativ etabliert, dass der „Wirtschaftsstandort Europa“ vor allem in urbanen Regionen diesen Erfolg ihrer „creative class“ zu verdanken hat. Mit Blick auf die post-industrielle Gesellschaft wird die Bedeutung von kreativem Humanpotenzial zudem weiterwachsen.
Gleichzeitig droht die Pandemie den Kultur- und Kreativsektor nachhaltiger und tiefgreifender zu bedrohen als andere Wirtschaftszweige. Der Großteil des Sektors besteht aus Selbstständigen oder kleinen und mittleren Unternehmen, deren Einkommensquellen zwischen öffentlichen Subventionen, privaten Sponsoren und Mäzenen, publikumsabhängigen Einnahmen oder Urheberrechtsgebühren variieren. Viele dieser Strukturen fallen im Zuge der Pandemie weg.
Creative Europe als paneuropäischer Hoffnungsträger
Unter der Führung der kroatischen EU-Ratspräsidentschaft im Jahr 2020 haben die europäischen Kulturminister*innen in der ersten Hälfte des Jahres eine gemeinsame Erklärung veröffentlicht, um den Weg zu gemeinsamen europäischen Unterstützungsmaßnahmen in der Corona-Krise zu ebnen. Die deutsche Ratspräsidentschaft führte diese Initiative unter dem Motto Gemeinsam. Europa wieder stark machen weiter. Dazu gehörten auch die Verhandlungen über das Programm Creative Europe.
Nach einer vorläufigen Einigung zwischen den Staats- und Regierungschefs, dem EU-Parlament und der Europäischen Kommission soll Creative Europe in der Laufzeit 2021 bis 2027 mit einem Etat von 2,2 Milliarden Euro ausgestattet werden – das ist eine Erhöhung um fast ein Drittel des bisherigen Volumens.
Allerdings dämpft das weite Mandat des Programms die Zuversicht auf strukturelle Verbesserung: Creative Europe soll die grenzüberschreitende Zusammenarbeit, die Vernetzung und Bildung von Plattformen im Kultursektor, die Film-und Medienbranche sowie die internationale politische Zusammenarbeit inklusive der europäischen Bürgerschaft unterstützen.
(Zum Vergleich: Der Streaming-Dienstleister Netflix hat allein im Jahr 2018 mehr als 1,75 Milliarden Euro in die europäische Filmproduktion investiert.)
Der bewegte Zustand der europäischen Integration bietet reichlich Nährboden für die künstlerische Auseinandersetzung: Was passiert, wenn sich Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungshorizonten begegnen?
(c) pawel-czerwinski, UNSPLASH