KONTINENT – Auf der Suche nach Europa: Die Mitglieder der OSTKREUZ – Agentur der Fotografen erforschen in ihrem neuen Gemeinschaftsprojekt die europäische Gegenwart. Mit Themen wie Identität und Sicherheit, Renationalisierung, Migration und Integration, Demokratie und Meinungsfreiheit finden sie dabei den Zugang zu komplexen Inhalten immer über Bilder vom Menschen und seiner Umgebung. Gleichzeitig legen sie den Finger in die Wunde dieser Utopie einer kosmopolitisch-internationalen Gemeinschaft, die Europa genannt wird.
KONTINENT wurde anlässlich des European Month of Photography 2020 eröffnet. Zum Gespräch lud der Kurator Ingo Taubhorn vor dem Lockdown auf die Dachterrasse der Akademie der Künste in Berlin ein.
Béton Bleu: Herr Taubhorn, lassen Sie uns vielleicht mit der historisch-lokalen Verortung der Ausstellung „Kontinent – Auf der Suche nach Europa“ starten: Sie beginnt im Max-Liebermann-Saal der Akademie der Künste. Diese Räume wurden einst von Albert Speer für die Errichtung des faschistischen Staates Germania genutzt.
Ingo Taubhorn: Für mich ist das total abstrus: Währenddem ich zu Ihnen spreche weht vor mir die Deutschland-Fahne neben der EU-Fahne auf dem Brandenburger Tor – und gleichzeitig befinden wir uns hier an einem Ort, wo die ehemaligen Arbeitsräume von Hitlers „Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt“ standen, also Albert Speer. Hitler war auch regelmäßig hier, um sich das Modell von Germania anzusehen und mit Speer zu disktutieren. Man könnte also sagen: Genau hier wo die Ausstellung im Jahr 2020 „Kontinent – Auf der Suche nach Europa“ eröffnet wird, wurde in den 1930er Jahren eifrigst daran gearbeitet, den europäischen Gedanken zu vernichten. Bei allen formalästhetischen Präsentationsüberlegungen und fotografischen Möglichkeiten hat so eine Ausstellung wie „KONTINENT“ noch immer eine gesellschaftspolitische Notwendigkeit. Besonders in Deutschland mit unserer Geschichte.
BB: Für die Akademie der Künste ist KONTINENT der künstlerische Beitrag zur EU-Ratspräsidentschaft 2020. Für die 22 Fotografinnen und Fotografen bildet sie hingegen den Abschluss eines fünfjährigen Langzeitprojektes. Wie ist die Idee zu „KONTINENT“ entstanden?
IT: Jetzt im Rückblick wirkt alles stimmig, dabei war vieles einfach ein schöner Zufall. Die Idee, das Thema „Europa“ zu bearbeiten, ist im Jahr 2015 in Paris entstanden, kurz vor dem Attentat auf Bataclan. Alle fünf bis sechs Jahre widmen sich die 22 Fotograf*innen einem unabhängigen Langzeitprojekt, oft geht es um die Frage nach Zusammengehörigkeit. OSTKREUZ hat sich ja 1990 gegründet, damit das Bild von Ostdeutschland nicht (nur) den Westdeutschen überlassen wird. Damit wurde die Gründung der Agentur selbst zu einer Haltung und bewussten Standortbestimmung. Aus der Frage „Wie sieht das Zusammenleben zwischen Ost-und Westdeutschland aus?“ hat sich allmählich die Frage entwickelt: „Wie sieht eigentlich das Zusammenleben in Europa aus?“. Seit 2015 arbeiten die 22 Fotografinnen und Fotografen daran – und seit 2015 hat sich enorm viel in Europa getan.
BB: Flucht, Nationalismus, Heimatbegriff, Globalisierung, Demokratie: All diese Begriffe werden in den 401 fotografischen Arbeiten angesprochen. Was hält denn Europa zusammen?
IT: Der Begriff Kontinent leitet sich ja vom lateinischen Wort „continere“ ab, das „zusammenhängen“ und „zusammenhalten“ bedeutet. Dieser Kontinent ist in seiner Vielschichtigkeit so komplex – und das ist letztendlich genau das, was wir an Europa lieben. Die Frage nach Identität und Zusammengehörigkeit kann nicht abschließend beantwortet werden und schon gar nicht in einer einzigen Ausstellung. Europa war und ist immer fluide und muss als Begriff stets neu aufgeladen werden. Was mir persönlich wichtig ist: Oft wird der europäische Zusammenhalt mit wirtschaftlichen oder technischen Entwicklungen in Verbindung gebracht oder seine Notwendigkeit nur damit begründet. Das reicht aber nicht. Uns als Kulturschaffenden geht es in dieser Ausstellung um die Frage, was den geistigen Raum Europas ausmacht - ein intellektuelles Projekt, das ja schon mit Voltaire und Hegel seinen Anfang nahm. Die Ausstellung eröffnet Projektionsflächen und gibt Denkanstöße, damit die Besucher*innen ihren eigenen Bezug zu Europa finden. Auch die Zweifel und das Hadern mit Europa gehören zu Europa, das zeigen die Arbeiten von Jörg Brüggemann sehr eindrucksvoll. Er porträtiert Demonstrant*innen in unterschiedlichen Staaten, manche von ihnen protestieren gegen die EU, manche für die EU, manche für ganz andere Themen. Und trotzdem sind sie alle Stellvertreter*innen für Europa. Trotzdem versucht die Ausstellung auch irgendwo, gegen diese Zweifel am Gelingen des europäischen Projekts zu opponieren.
BB: Wie sind Sie beim Kuratieren vorgegangen?
IT: Für mich als Kurator war schnell klar, dass die Fotograf*innen nur ein Europa zeigen können, das von den eigenen persönlichen Erzählungen geprägt ist, die zeitbezogen sind und keinerlei Ansprüche auf Vollständigkeit erheben können. Keine Ausstellung dieser Welt kann die Erwartungshaltung erfüllen, alle Aktualitäten aller 27 Mitgliedsstaaten der EU abzudecken. Bei so einem komplexen Thema wie „grenzüberschreitender Zugehörigkeit“ wird und muss es Lücken geben, sowohl thematisch als auch geografisch. Der Mut zum Fragment ist essenziell.
BB: Es ist gar nicht so einfach Kunstschaffenden Statements zu Europa abzunehmen. Was würden Sie sagen: Welche Rolle kommt Kunst- und Kulturinstitutionen beim Projekt Europa zu – ohne in Propaganda abzurutschen?
IT: Kultur ist ein verbindendes Element und hat eine enorm wichtige Rolle für Europa. Wenn ich in eine fremde Stadt fahre, sagen wir mal nach Krakau, dann sehe ich mir ja nicht zuerst die Sportplätze an, sondern die Museen. Durch Kultur wird die eigene Identität sowohl nach innen als auch nach außen vermittelt: Sie zeigt schließlich das Selbstverständnis einer Gruppe, einer Region, eines Landes. Kulturinstitutionen bilden für mich also den Ausgangspunkt, einen Ort zu verstehen und erst danach geht es sternförmig weiter. Ich wundere mich jetzt selbst, dass ich so eine Plattitüde herauskramen muss, aber nur derjenige, der die Geschichte kennt, kann die Gegenwart verstehen! Wir bewegen uns auf einer so dünnen Oberfläche, die mit dem Blut der Geschichte getränkt ist, wir müssen uns öfter mit Geschichte befassen. Und genau hier kommt die Rolle der Kulturinstitutionen ins Spiel.
BB: Also kann nationale Kultur ein Katalysator für internationale Kooperation sein?
IT: Das ist ein schwieriges Thema. Denn letztlich ist die große Frage, die dahintersteckt: Hat denn Kunst die politische Kraft, tatsächlich auf Geschehnisse einzuwirken? Ich persönlich glaube, dass sich nicht nur Institutionen, sondern auch Künstlerinnen und Künstler ihrer Verantwortung nicht entziehen können. Auch wenn sie sich von politischer Kunst distanzieren, sie bleiben ein Teil ihres Landes und Teil seiner Kultur. In diesem Sinne sind auch unpolitische Arbeiten irgendwo auch politische Arbeiten. Aber wenn Künstler*innen politisch werden, tun sie es eben nicht für „das Land“, sondern aus einer Haltung heraus, die auf Werten begründet ist. Diese muss auch nicht unbedingt pro-europäisch sein.
Wenn ein Maler ein Bild malt oder eine Dichterin ein Werk verfasst, dann machen sie das nicht, um jemandem abschließend eine Identitätsdefinition zu geben oder ihnen die eigene Identität überzustülpen. Sie machen das, hoffentlich, um meinen Horizont zu erweitern und meine Herangehensweise sowie mein Erlebnis zu verfeinern. Diese Verfeinerung, das können Kulturinstitutionen leisten. Deswegen wäre eine Welt ohne Kunst und Kultur unvorstellbar. Und ein Europa ohne Kunst und Kultur wäre nicht möglich.
BB: Was wären Ihre konkreten Forderungen an die europäische Kulturpolitik?
IT: In der Wahrnehmung von Europa setzen sich nur Fragmente von Bildern zusammen, die nicht nach Vollständigkeit streben. Diese Fragmente hinterlassen ein unruhiges Puzzle, das ich sowieso nicht zusammensetzen kann. Wenn wir die EU nur auf die wirtschaftlichen oder technischen Aspekte reduzieren, dann begreifen wir den geistigen Raum nicht, der uns umgibt und den wir letztendlich auch immer wieder einfordern müssen. Wir müssen daher in den kulturellen Raum investieren. Das beginnt bei Finanzierung und geht weiter bei neuen Formaten – zum Beispiel Ausstellungen wie diese in Europa rotieren zu lassen. Für britische Besucher wäre es bestimmt interessant zu sehen, dass auch wir uns intensiv mit dem Brexit auseinandersetzen. Dasselbe gilt für polnische Besucher in Polen. Bilder, Ausstellungen, Kulturprodukte – sie alle können als eine visuelle Einladung zum Dialog verstanden werden. Sicherlich, vieles davon machen die Goethe-Institute. Trotzdem, wir müssten in Europa viel öfter im Gespräch sein. Und Fotografie ist ja glücklicherweise eine Sprache, die universell ist.
Herr Taubhorn, vielen Dank für das Gespräch.
Interview: Ana-Marija Cvitic
Die Ausstellung zum 30-jährigen Bestehen des Kollektivs wird kuratiert von Ingo Taubhorn und findet im Rahmen des European Month of Photography 2020 statt.
Begleitend zur Ausstellung erscheint eine Podcast-Reihe.
Gefördert vom Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE), der Senatsverwaltung für Kultur und Europa und der Gesellschaft der Freunde der Akademie der Künste
Über Ingo Taubhorn:
Ingo Taubhorn ist seit 2006 Kurator des Hauses der Photographie / Deichtorhallen Hamburg. Als Künstler stellte er international aus, mit Werkgruppen wie »Mensch Mann«, »VaterMutterIch«, und »Die Kleider meiner Mutter«. Seit 1988 arbeitet er als freier Ausstellungsmacher für das Museum Folkwang in Essen, für die Pat Hearn Gallery in New York und die Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) in Berlin. Er ist Präsident der Deutschen Fotografischen Akademie (DFA) und unterrichtet an der Fachhochschule Bielefeld sowie an der Ostkreuzschule in Berlin.
Mehr Informationen zur Ausstellung: https://www.adk.de/de/programm/?we_objectID=61360
(C) 31/12/2020
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