"Der Klang der Vögel vermischt sich mit dem Klang VON Explosionen"
BÉTON BLEU MAGAZINE x YANA HRYHORENKO
Yana Hryhorenko ist eine Fotografin und NFT-Künstlerin aus Kiew, Ukraine. Mit dem Béton Bleu Magazine sprach sie über den Krieg, Bewältigungsstrategien in der Kreativszene und darüber, wie der NFT zu einem mächtigen Instrument zur Unterstützung ukrainischer Frauen wurde.
BB: Wie geht es Dir?
Yana: Mir geht es gut, zumindest gemessen an derzeitigen ukrainischen Verhältnissen: Ich schlafe in meinem eigenen Bett und habe warmes Essen auf dem Tisch. Ich wohne in der Nähe von Kiew. Hier vermischt sich das Zwitschern der Vögel mit dem Lärm der Explosionen. Aber es gibt nichts, worüber man sich beschweren könnte. Hier ist es ruhig genug, zumindest im Moment.
BB: Wie geht es Deinen Künstlerkollegen und Freund:innen?
Yana: Jeder tut, was er oder sie kann. Einige retten ihre Familien, während sie unter Beschuss sind. Einige versuchen, halb bewusstlos in die Tschechische Republik zu gelangen. Einige haben die Grenze nach Polen überquert und helfen anderen Menschen, die ebenfalls auf der Flucht sind. Einige bauen in ihrem Dorf Tierheime auf, andere leben im Keller, einige arbeiten in den IT-Teams der Truppen. Einige treten den Streitkräften als freiwillige Fotograf*innen bei. Ich bin stolz auf jede*n Ukrainer*in, unabhängig davon, wo er oder sie lebt.
BB: Wo beantwortest Du gerade unsere Fragen?
Yana: In meiner Küche. Meine kleine Familie (ich, mein Mann und unser Hund namens Chloe) haben uns hier wie um ein emotionales Lagerfeuer versammelt. Wir träumen davon, wie wir meine Mutter aus einer anderen Stadt zu uns holen, sie zu umarmen und zu verstecken.
BB: Wie sieht Dein Alltag jetzt aus?
Yana: Um nicht durchzudrehen, widme ich meine ganze Zeit der Erstellung einer Women's NFT Collection, um Geld für humanitäre Zwecke zu sammeln und unseren heldenhaften Krieger*innen zu helfen. Ich versuche, mich langsam zu zwingen, zu den täglichen Ritualen des Lebens zurückzukehren. Aber man ist so sehr darauf fokussiert, zu überleben. Es gibt keinen Raum zum Entspannen. Jeder von uns, der nicht auf dem Schlachtfeld ist, erlebt gerade dieses ‘Überlebendensyndrom’. Ich sehe eine Yogamatte, eine Feuchtigkeitscreme oder einen schönen Pyjama und kann sie nicht anfassen. Ich weiß, dass ich die Möglichkeiten, die ich habe, nutzen muss und meine Psyche vor der Selbstzerstörung bewahren muss. Am 19. März, habe ich meinen ersten Spaziergang am Fluss gemacht und meine ersten Yogaübungen. Es war der erste Tag, an dem ich nicht 17 Stunden am Laptop saß und gearbeitet habe.
BB: In jungen Jahren hast Du bereits an erfolgreichen Ausstellungen in der Ukraine und im Ausland teilgenommen. Wie bist Du bei der Fotografie gelandet?
Yana: Ich habe seit meinem 15. Lebensjahr im Bereich Journalismus und im Marketing gearbeitet. Im Alter von 25 Jahren war ich Art Direktorin in einer Eventfirma; alles schien klar und vorbestimmt. Dann gab es plötzlich einen Bruch in meinem Leben. Ich hatte das Bedürfnis, darüber zu sprechen, aber ich fand keine Worte. In dieser schwierigen Zeit schenkte mir mein Mann eine Kamera; so kam ich zur Fotografie, im Jahr 2019. Ich hatte einen großartigen Lehrer, Dimitri Bogachuk, dessen inspirierender Ansatz dazu führte, dass ich mich in die Fotografie verliebte. Nach zwei Jahren hatte ich das Glück, an mehreren Ausstellungen teilzunehmen.
BB: Gibt es einen fotografischen Ansatz, den Du verfolgst?
Yana: Mein wichtigstes Werkzeug ist wirklich Farbe. Meine Herangehensweise wird von der ‘beschränkten’ Sichtweise diktiert, mit der ich geboren wurde. Die Augen können zwar sehen, aber das bedeutet nicht, dass du verstehst, was Sehen wirklich bedeutet. In meinem Fall ist das sogar wortwörtlich so: Wegen einer angeborenen Augenanomalie bin ich stark kurzsichtig. Ohne Linsen und Brille sehe ich nur Farben, keine klaren Formen oder Linien. Jeden Tag bestätige ich die Wellentheorie des Lichts, ich bemerke verschiedene Erscheinungsformen der Beugung, Interferenz und Streuung des Lichts und viele andere "Visionen", die ich noch nicht erkannt habe. Diese Lektionen in faszinierender Physik verdanke ich einer genetisch bedingten, angeborenen Anomalie. Der Moment, als meine Eltern mir meine erste Brille kauften, ist eine der schönsten Erinnerungen aus meiner Kindheit. Das erklärt vermutlich, warum mich leuchtende Farben als Künstlerin so anziehen. Denn wenn man zum ersten Mal oder nach langer Pause eine Brille trägt, sind die Farben beeindruckend, die ganze Welt scheint zu brennen. Das ist ein Moment der Erleuchtung - hell, voller psychoaktiver Energie.
Ich sehe und verstehe auch die Komposition der Dinge als ungewöhnlich. Die meisten meiner Bilder sind vertikal. Das linke Auge sieht praktisch nicht, und bei horizontalen Bildern kann ich mich zwar auf den Zufall verlassen, aber nicht auf das Sehen. Meine Wahrnehmung der Welt ist also zwangsläufig anders als die anderer Menschen. Das ist schon seit meiner Kindheit so und ich habe gelernt, damit zu leben. Die Künstlerin in mir ist damit im Reinen, denn sie sieht mehr als meine Augen.
BB:Du stellst die aktuelle Kriegssituation mit Bildern aus ihrer Serie "Disturbing Beauty" dar und veröffentlichst sie mit Begleittexten auf Social Media. Sind das aktuelle Bilder?
Yana: Eine Woche vor dem Krieg hatte ich ein spontanes Shooting, meine Freundin Ira Kabysh, die auch Model ist, setzte sich dafür einen Militärhelm auf, und der Hersteller dieser Helme wollte die Bilder für sein Werbematerial nutzen. Am 23. März filmte ich eine andere Kollegin von mir, Kristina Revizor, die Autorin der UWPO, mit einer Gasmaske. Einen Tag später begann der Krieg. Ich wachte auf und sah all diese Nachrichten auf meinem Handy, in denen stand: WIR WERDEN BOMBARDIERT. Ich verstehe immer noch nicht, warum ich diese Fotos gemacht habe. Manchmal frage ich mich, ob es keinen Krieg gegeben hätte, wenn ich das nicht gefilmt hätte... Das ist natürlich Unsinn, aber ich habe trotzdem gemischte Gefühle gegenüber dieser ‘Foto-Prophezeiung’.
BB: Du hast Dein eigenes NFT-Projekt ins Leben gerufen, um ukrainische Künstlerinnen in der aktuellen Situation zu unterstützen.
Yana: Wir haben uns mit Frauen zusammengeschlossen, um unserem Land zu helfen. Unser Kollektiv ‘Ukrainian Women Photographers Organization’ wurde 2020 während des ersten Corona-Lockdowns gegründet. Wir machten ein tolles Projekt zum Thema Selbstdarstellung und hatten einige Pläne für die Zukunft, dank unserer Kuratorin und Präsidentin der Organisation - Anya Melnykova.
Aber dann gerieten wir in diesen Krieg. Gemeinsam mit Anya haben wir überlegt, was wir in dieser Situation tun können. Alles geschah so schnell und wir reagierten spontan darauf. Ich war nie ein NFT-Experte, ich habe erst im Februar gelernt, wie das überhaupt funktioniert. Ich hatte ein leeres Konto bei Opensea, und in einem Gespräch mit Anya schlug ich beiläufig vor, eine kollektive NFT-Sammlung zu starten. Heute umfasst die Sammlung auf Opensea die Arbeit von fast 70 ukrainischen Frauen, und alle gesammelten Gelder werden genutzt, um Ukrainer’innen in den Krisengebieten zu unterstützen, mit Medikamenten, Lebensmitteln, Schutzkleidung, oder um Waisenhäusern und Tierheimen zu helfen. Niemand von uns hatte eine solche Reaktion erwartet. Das konnte niemand vorhersehen. Wir hatten keine Zeit, groß etwas zu erfinden und bedeutsame Worte zu wählen. Wir haben einfach getan, was wir für nötig hielten. Und das ist wirklich das beste Gefühl, das ich in diesen Tagen erlebt habe. Diese Erkenntnis, dass wir gemeinsam stark sind. Dass wir Frauen etwas verändern können, selbst in Kriegszeiten.
BB: Es gibt massive zivile Unterstützung für die Ukraine in Europa - bekommst Du davon etwas mit?
Yana: Natürlich. Meine Kolleg*innen sind jetzt überall auf der Welt (nicht nur wegen des Krieges, einige von ihnen haben dort schon vorher gelebt). Sie erzählen uns von der riesigen Unterstützung durch die Zivilbevölkerung. Wir sehen Live-Übersetzungen aus der ganzen Welt. Aber gleichzeitig fühlen wir uns von den offiziellen Organisationen und Regierungen verraten, die vor acht Jahren die Augen vor der Annexion der Krim verschlossen haben, und jetzt schauen sie betroffen dabei zu, wie unser schönes Land zerstört wird, wie ein echter Völkermord an der ukrainischen Bevölkerung und ihren Kindern verübt wird. Das, was hier passiert, ist das Schlimmste, was man sich vorstellen kann. Und eine Flugverbotszone gibt es immer noch nicht trotz der Hilfeschreie einer gesamten Nation.
BB: Wie können wir helfen?
Yana: Wenn Sie Kunst mögen, können Sie ukrainische Künstler*innen unterstützen - mit NFTs oder auf andere Weise. Nicht nur durch unsere Aktion; viele europäische Galerien bieten im Moment die Möglichkeit, ukrainische Kunst zu erwerben - und unserem Land und unserem Volk in einer so schwierigen Zeit zu helfen.
Was möchtest Du noch loswerden?
Die Ukrainer*innen geben nicht auf! Ruhm für die Ukraine! Ruhm den Held*innen!
Vielen Dank für Deine Zeit.
Biographie:
Yana Hryhorenko - Fotografin, nft-Künstlerin aus Kiew, Ukraine.
Mitglied der Ukrainischen Fotografinnen-Organisation.
Im Alter von 30 Jahren verließ sie ihre 15-jährige Karriere im Marketing und begann, die Fotografie zu erlernen, um ihr kreatives Potenzial ohne Worte und nur durch Bilder zu verwirklichen. Im Jahr 2019 begann sie mit dem Studium der Fotografie und Kunst sowie mit der Arbeit an ihrer ersten dokumentarischen Fotoserie "Childreach". Yana Hryhorenko arbeitet im Bereich der Dokumentar- und Konzeptfotografie und beschäftigt sich derzeit mit Themen wie Sehschwäche und visuelle Anomalien.
Website: https://yanahryhorenko.art/CV
NFT collection https://opensea.io/collection/uwpo
UWPO page https://www.instagram.com/u_women_photographers/
Interview: Ana-Marija Cvitic
08/04/2022
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